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Filch receives today the most astonishing compliment: "you are the new Beuys"

Bettlertagebuch 01.8.07 (Mittwoch)

Heute gelingt es Filch, ins Auge des Sturms vorzudringen. Dorthin, wo die Zukunft beginnt, und die Geheimnisse der Vergangenheit bewahrt und weitergegeben werden. Aber eins nach dem anderen.

Er schafft es verhältnismäßig pünktlich ins "fyal central", muss sich aber erklären, weil die gerade amtierende Belegschaft ihn noch nicht zu Gesicht bekommen hat. Er trinkt seine "Aufgeschäumte" heute mal vor dem Café, weil das Wetter so schön ist.
Als er etwa zwei Minuten am Tisch sitzt, setzen sich zwei junge Damen zu ihm, die den Tisch eigentlich schon für sich reserviert hatten, aber sie dulden ihn, obwohl er sogleich anbietet, seinen Platz aufzugeben. Es entspinnt sich ein lockeres Gespräch und bald wird deutlich, dass eine der beiden eine angehende Kunstlehrerin ist, die andere an der Kunstkademie studiert, und es sich bei ihm um Skulptur Nr. 6 handelt.
Filch nutzt die Gunst der Stunde und erkundigt sich, ob sie ihm sagen könnten, wie die Stimme von Joseph Beuys geklungen hat, der ja doch eine große Nummer in der Kunstwelt gewesen sein soll. Keine von beiden kann ihm zunächst weiter helfen, aber als sie Filch schließlich beschreiben, wie sie sich die Stimme von Beuys vorstellen (eher hoch, angenehm aber mit einem leicht aufgekratzten, fast zickigen Unterton), und er sich an einem akustischen Entwurf versucht, können sie sich schnell auf eine immerhin vorstellbare Version einigen. Eine der beiden geht sogar so weit, ihm etwas zu sagen, was ihm bisher noch keine Frau gesagt hat: "Du bist der neue Beuys." Schon allein im Anbetracht seiner Mütze weiß er nicht, ob er das Kompliment so ohne weiteres annehmen kann, aber er würde es auch um nichts auf der Welt wieder hergeben.
Sie bieten Filch Himbeeren und Pflaumen an, die sie eben auf dem Markt gekauft haben, und sie unterhalten sich so lange, dass Filch heute doch wieder ein wenig zu spät - wenn auch nur mit der geringfügigen Verspätung von einer Dreiviertelstunde - zum Spiekerhof aufbricht. Allerdings ist ihm ein Angebot gemacht worden, dass er unmöglich ausschlagen kann: die Kunststudentin will ihm heute um 16 Uhr die Akademie zeigen! - Filch reagiert darauf so überschwänglich, oder so untercoolt (oder wirkt auf die Studentin so verpuzzelt), dass sie ihn bittet, noch einmal ehrlich zu sagen, ob er auch wirklich vorhat zu kommen. Filch schwört es mit der neu erlernten Geste des "Brückenaffen" (2. und 5. Finger ausgestreckt), die er in Anbetracht seiner anstehenden Hip-Hopper-Karriere kurzerhand in eine Geste der Respektbezeugung umwandelt, und die Künstlerin zeichnet in seinen Stadtplan und darüber hinaus (!) den Weg zum Leonardo Campus auf der Steinfurter Straße, Richtung Gronau ein und schreibt noch die Telefonnummer vom Büro der Akademie darunter, unter der er anrufen soll, falls er nicht kommen wird. Filch findet diese Vorsichtsmaßnahme eigentlich überflüssig, aber ihm gefällt die Handschrift. (Überhaupt ist der Standortplan, der inzwischen eine ganze Menge Himbeersaft-Flecken aufweist, durch diese morgendliche Begegnung selbst irgendwie zu einem Kunstobjekt geworden.) Vorausgesetzt, dass er kommt, treffen sich am "Gelben Stern".

Als Filch an den Spiekerhof kommt, geht er an Punkt "06" vorbei und die Bergstraße hinauf bis zu den "Bänken über dem Fluss". Er muss Text lernen.

Plötzlich steht er auf. Er muss in Bewegung kommen. Er braucht beim Lernen den Rhythmus und geht am Flussufer entlang und dann wieder den Spiekerhof hinunter und die Bergstraße hinauf bis zu zum Fluss. Als er die Strecke zum zweiten Mal abläuft, hält er vor dem Damen-Oberbekleidungs-Geschäft an, und besieht sich Punkt "06" aus der Perspektive seiner zahlreichen Besucher in den letzten Wochen, und mit einem Mal weiß er, warum er zögert, dort sein Lager aufzuschlagen, warum er zu spät kommt, warum er den Platz vor dem Schaufenster kampflos den dort abgestellten Fahrrädern überlässt: er hat Punkt "06" verloren. - Das heißt: er könnte sich dort aufstellen wie immer, aber er glaubt es nicht zu verdienen. Das ist genau das Wort: er muss sich den Platz vor dem Damen-Oberbekleidungs-Geschäft erst wieder verdienen; er hat ihn mit einer Vision verlassen, und jetzt schuldet er ihm einen Song. Wenn er bereit für die Performance ist, wird er wiederkommen. Und selbst wenn es nur für einen Tag, selbst wenn es nur für eine Stunde ist.