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English synopsis 24.06.07, Sunday. (scroll down for pictures.- für Deutsch siehe unten)
The Beggar decides to visit another work made for SPM07, the famous "thread" by Mark Wallinger, a work entitled "Zone". The work consists of a thin, almost invisible thread that draws a 5 kilometer circle around the center of Muenster; its construction demanded very complex agreements between 197 notaries and lawyers, as well as countless citizens, about the “right of passage” of the thread though private homes and institutional buildings. His face turned up, The Beggar follows the elegant itinerary of the thread through urban agglomeration and human misery and happiness, high in the sky, where nothing can touch it. It is beautiful, thinks The Beggar, it is beautiful and needs neither explanation nor justification. There is a lot of envy in these thoughts, and sadness about his present condition.
He chit chats with passers-by and visitors about "Zone". Do they know that the thread was shot with an arrow from one point to another? That it was shot by a professional shooter? Would they have liked it better if the artist, after six months of training, had himself shot those arrows between buildings? Yes, they would. But this wouldn't have affected the final result at all.
Thoughtful, he walks back to point 06, but instead of ostentatiously presenting himself as Sculpture No. 06, The Beggar, he decides to underplay it completely and simply to give away flyers for his upcoming performance at Metropolis Kino, on June 27. No one seems interested in talking to him.
In the evening, Filch The Beggar disappears and the actor playing The Beggar goes as a private person to one of the events organized by SPM07. However, Filch seems to instantly regain possession of the actor as he passes a financial institution advertising the following message: "everybody can get a loan and build for himself a better life".

Bettlertagebuch 24.06.07 (Sonntag)

Filch bechließt, den berühmten Faden von Mark Wallinger zu besuchen. Er beginnt seinen Besuch am nördlichsten Punkt. Von einer Einwohnerin wird er unterrichtet, dass im Vorfeld bereits 197 Anwälte und Notare in den Anbringungsprozess involviert waren. Sie sprechen noch kurz über einige andere Skulpturen, unter anderem auch über den "Beggar". Die Frau glaubt, ihn noch nicht gesehen zu haben und weiß nur, dass er die ganzen Stadt durchstreift. Sie fragt sich allerdings, ob dem "Beggar" gesagt wird, was er tun soll, oder ob sich der Ablauf seiner Gänge und Handlungen einfach ergibt. Filch fragt sich das auch.
Die Frage nach dem "Beggar" wird heute überdies zu Filchs bevorzugtem Standard. "...und dieser Beggar versucht an alles mögliche zu kommen, oder, an Geld, an Informationen?" - "Und dabei wandert er durch die Stadt." - "Fast so wie ich jetzt!" / "Können Sie noch eine Skulptur empfehlen?" - "Ja, Nr. 6, aber die haben Sie ja schon gesehen.")

Sofort beim ersten Anblick beginnt er, den Faden ein wenig zu beneiden. Weil der Faden nichts zu erklären braucht. Er ist schön. Filch weiß ihn zu schätzen, und das passiert ganz ohne dass er sich von irgend etwas überzeugen muss. Wie viele Dinge, denkt er, muss man zu schätzen wissen, weil man sonst ungerecht wäre oder undankbar oder einfach verrückt. Und dann plötzlich dieser Faden, der ihm für den Bruchteil einer Sekunde den Glauben an den Zauber des Irrationalen zurück gibt. 197 Notare und Anwälte, aber den Faden scheint das völlig unbeeindruckt zu lassen.
Filch folgt ihm im umgekehrten Uhrzeigersinn bis zum Schloss, wo er allerdings auf eine falsche Fährte gerät und - wie sich später herausstellt - über den Botanischen Garten bis zum Schlossgarten und dann weiter zur Einsteinstraße läuft. Dass er den Faden nicht mehr sieht, beunruhigt ihn etwas. (Wahrscheinlich ist er gerade da am schönsten, wo er ihn nicht sieht.) Zunächst hat er noch die Hoffnung, irgendwann einfach wieder auf ihn zu treffen. Als er sich aber schließlich eingesteht, dass er sich völlig verlaufen hat, lässt er sich den Weg zurück zum Schloss erklären. (Wehe, wenn das Ding bei Wiederauffindung einfach aussieht wie ein normales Stück Angelschnur.)
Filch kommt zum Aasee und läuft am Ufer entlang an der St. Antonius Kirche vorbei, aber bis er den Faden eindeutig wieder sieht, ist er bereits auf der Hammerstraße. Doch als er ihn sieht, ist es keine Frage, dass er noch einmal ein Stück zurückläuft, da er hier und um diese Tageszeit (zumindest heute) in umgekehrter Richtung einfach besser auszumachen ist. Er findet ihn zwischen Engel- und Von-Steuben-Straße und ist spätestens auf der Bahnhofsstraße vom lakonischen Humordes Fadens überzeugt. Er hat etwas Listiges, Subtiles, vornehm Egozentrisches. Fast am Schönsten findet ihn Filch, als er ihn unerwartet niedrig über der Verkehrsinsel an der Eisenbahnstraße trifft: vorgebend, immer da gewesen zu sein.
Zu diesem Zeitpunkt hat Filch die Geschichte von den 197 Notaren und Anwälten schon fast ein halbes Dutzend Mal erzählt. Er fragt sich durch und verwickelt alle, die er trifft, zumindest geistig in das Thema Faden. Als er schließlich, rund dreieinhalb Stunden nach seinem Aufbruch, wieder am Start- und Zielpunkt angekommen ist, erzählt ihm ein Ehepaar, das den Faden ebenfalls bewundert, die wohl schönste Faden-Konstruktions-Geschichte
: Wie der Faden mit Pfeil und Bogen von einer Winde zur nächsten geschossen worden ist. "Vom Künstler selbst", fragt Filch. - "Nein. Von einem sehr guten Schützen." Aber dann erwacht der Geschichtenerzähler in ihm, und er fragt ganz offen, ob es seinen beiden Gesprächspartnern lieber ist, dass für das Schießen ein versierter Schütze beauftragt wurde, oder ob sie es lieber gesehen hätten, "wenn der Künstler sich - gemäß des uomo universale-Ideals der Renaissance - in einem Akt von method sculptering ein Dreiviertel Jahr auf das Schießen vorbereitet hätte, um es selbst zu machen"? - Das fänden sie noch toller, gestehen beide. Aber es nimmt dem Faden nicht, nichts, NICHTS, dass es nicht so ist. Er schießt noch selbst ein Foto von sich am nämlichen Start- und Zielpunkt und versucht, beim Posen mit einzubeziehen, was er gestern beim Gespräch über die "Philadelphia Story" ("Die Nacht vor der Hochzeit", 1940) gelernt hat. Er kommt sich allerdings mehr vor wie John Wayne am Ende von "The Searchers" ("Der Schwarze Falke", 1956).

Den Sonntagsdienst auf Punkt 06 geht er heute anders an. Der Regen hat inzwischen die restlichen Spuren vom gestrigen Eisunfall weggespült. Filch packt seine Sachen gar nicht aus, sondern entschließt sich, zunächst einfach nur Werbung für die Show am Mittwoch um 17 Uhr im Metropolis-Kino am Hauptbahnhof zu machen. Die Flyer haben Stil, sind aber ansonsten von einer fast sachlicher Schlichtheit. Vor sich hat er den Kaffeebecher mit seiner ausländischen Münzsammlung abgestellt, weil er einer kleinen Unkostenunterstützung durch Touristen und einheimische Passanten nicht das Wasser abgraben möchte. (Ich spreche Filch hier, als es doch endlich zu ein paar Gesprächen kommt, indem ich seine Stimme zunächst noch weniger forciere als sonst. Er wirkt, die Flyer feilbietend, wahrscheinlich wie jemand, der ein schlechtes Gewissen hat. wir können nur ahnen, warum. Seine Unsichtbarkeit ohne den Zettel mit dem Aufdruck Punkt 06 unterspiele ich derart, dass sie fast schon wieder übertrieben ist. Und manche Leute sprechen mich nicht an, obwohl sie wissen, dass Filch Skulptur Nr. 6 ist. Aber Filch will sich nicht anbiedern. Zunächst besteht er sogar darauf, zuerst angesprochen zu werden.
Die Gespräche sind heute leiser, fast intim. Wenn Filch heute Filzstifte aus Korea anbietet, ist das fast schon ein Vertrauensbeweis. Er verkauft sie beide.

Am Abend hat Filch noch etwas Besonderes vor, denn ich bin zur Verleihung des "Berber-Preises" eingeladen worden, den eine Jury der Zeitschrift "Draussen" im Metropolis-Kino verleiht. Ich gehe stellvertretend für Dora García und alle Mitarbeiter des "Beggar Projects" hin. Und wie zum Interview vor fast einer Woche erscheine ich als Privatperson.

Auf dem Weg zum Kino kommt Filch an einem Kreditinstitut vorbei, das damit wirbt, dass prinzipiell jeder sich viel mehr leisten könnte. Filch hat zwar nach wie vor völliges Vertrauen zu "seinem" Vermögensberater, der ihm am Freitag von der Aufnahme eines Kredites klar abgeraten hat, aber er ist ja deswegen nicht gleich ein anderer.