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Tue 03
Jul 2007

01805647746

Posted by dora under The Beggar's Diary
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English synopsis 01-07-2007
Filch has decided to make this Sunday a real Sunday and do what other people do on Sundays: enjoy life. He wants to use the hard-earned 6 euro from yesterday to go to Kassel to visit Dokumenta, but unfortunately for him the cost of the train ticket is 62 euro, more than he can ever dream of making today. Discouraged and tired, he wanders aimlessly about the city until he finds an abandoned mattress on the street, whereupon he simply lies down and sleeps. The rain wakes him up two hours later and a new idea comes into his head: to sail a pedaling boat around the lake. Of course he has no money for this, but he has a brilliant strategy. On a piece of cardboard he writes the message: "I will pedal your boat for free." To make his proposal more serious, he attaches an official No. 06 on it. People love it, but no one accepts his generous offer. Be that as it may, his piece of cardboard sparks up great conversations with the public.
At long last, a lady considers sailing around the lake with him pedaling the boat, but she cannot make up her mind. In the meantime, they have a long conversation in which she explains to Filch that she knows Kassel, that it is a horrible city, but that, nevertheless, an artist has imported 1.200 Chinese people who now are touring the city. Every Kassel native thought these were 1.200 poor Chinese workers, but they turned out to be very rich business people who are simply buying everything in sight. Filch decides right there that he must go to Kassel. There is no other way.
Scroll down for images. Für Deutsch siehe unten.

Bettlertagebuch 01.07.2007 (Sonntag)

Heute Morgen hat Filch sich vorgenommen einen richtigen Sonntag zu machen. Er will wie alle anderen Leute sein. Doch seine Vorstellungen von einem Sonntag in Münster sind unvollständig. Er möchte nicht arbeiten, dass ist klar. Und nach seinen guten Einnahmen Gestern kann er es sich auch leisten. Also beschließe ich heute einen anderen Weg in die Stadt zu nehmen.

Die bisher vielleicht markanteste Änderung, seit ich den Filch übernommen habe besteht darin, dass er nun jeden Morgen einen ca. 30-minütigen Fußmarsch von einem südlich gelegenen Wohngebiet in die Stadt hinein geht. Gleiches gilt für abends – nach getaner Arbeit. Dann läuft Filch wiederum eine halbe Stunde aus der Stadt heraus um dort die Nacht zu verbringen. Es ist erst der zweite Tag, den Filch mit seinem neuen Darsteller verbringt (besser sollte man hier sagen „durch“ seinen neuen Darsteller verbringt, denkt Filch) und schon hat sich das Gefühl von ein wenig Routine eingeschlichen. Er ist mit seiner neuen Situation sehr schnell sehr vertraut. Routine entspricht auch ein wenig seinem bestreben. Die Zusage an den Kaffeemann von gestern (der mit dem er seinen zukünftigen Reichtum teilen will), heute wieder vorbeizukommen, kann er nicht einlösen weil das Geschäft geschlossen ist. Filch geht daher in eine Richtung, die er noch nicht kennt und befindet sich bald in einem Villenviertel mit vielen Bäumen, die eine angenehme Kühle verbreiten. Es ist schön hier, denkt er – ein Ort an dem man schnell vergisst wie anstrengend das Leben ist. Aber er fühlt sich hier doch sehr fehl am Platz, weil es außer dem Bürgersteig hier überhaupt keinen öffentlichen Raum gibt. Das er hier ungewollt ist, liegt auf der Hand. Aber er will ja ohnehin nicht hier bleiben. Er biegt in eine Sackgasse, die wie er festestellt gar keine Sackgasse ist, sondern an einem Waldstück vorbeiführt und dann in eine andere Straße mündet. Den einzigen Grund den Filch für diese offensichtlich mutwillige falsche Beschilderung findet ist der, dass man Bettler abschrecken will zu dem Mövenpick Hotel zu gehen. Denn es ist das einzige Haus an dieser Straße.

Während er weiter ziellos dahin schlendert, kommt er an einem Schild vorbei, dass zum Blutspenden aufruft. Darf man ohne einen festen Wohnsitz eigentlich Blut spenden? Dunkel hat Filch in Erinnerung, dass es dafür Geld gibt. Es steht eine kostenlose Telefonnummer auf dem Schild, die wird er morgen anrufen. Und auch wenn Bettler vielleicht kein Blut spenden dürfen, so denkt er doch, dass er wenigstens andere dazu auffordern sollte und veröffentlicht daher die Blut-Spenden-Nummer hier in seinem Tagebuch: 0800 11 949 11.
Nun und ertappt sich, wie er unversehens doch eine Botschaft formuliert hat. Und schon sind seine Gedanken wieder bei dem gestrigen Tag und er erinnert sich an eine Karte der Missionarin mit einer Telefonnummer. Nur dass man dort Geld bezahlen soll um sich eine Predigt anzuhören! Er kramt sie aus der Tasche, betrachtet sie und kommt zu dem Schluss, dass er doch lieber bei der Kunst bleibt. Er will zum Bahnhof um sich nach dem Preis einer Fahrkarte nach Kassel erkundigen. Das Ergebnis ernüchtert ihn: 62 Euro für den Regionalzug. Den ICE könnte er etwas billiger haben, aber dann muss er sich mindestens 3 Tage im Voraus auf einen Zug festlegen und das kann er bei seinem Leben gewiss nicht tun. Filch ist niedergeschlagen und läuft ziellos durch Münster. Er ist müde geworden und denkt ans Aufgeben, als vor ihm eine tadellose Matratze an einer Hauswand lehnt. Kurz entschlossen legt er sie auf den Gehweg und legt sich hin um eine Weile auszuruhen. Der einsetzende Regen weckt ihn wieder auf und er bemerkt, dass er mehr als zwei Stunden geschlafen hat.

In dem Kaffee mit der Badewanne trinkt er einen Kaffee und macht sich sobald es wieder trocken ist auf den Weg zum Aa-See. Er will Tretboot fahren.

Er ist gut vorbereitet und trägt ein Schild mit der Aufschrift „Ich fahre Sie kostenlos im Tretboot.“ (den Becher mit dem Geld hat er sicherheitshalber doch aufgestellt, vielleicht will ihm ja jemand unaufgefordert Geld geben). Sein Plan ist, jemanden zu finden der das Tretboot mietet um im Gegenzug würde er dann auch die Pedale treten. Und wenn er niemanden finden würde so könnte er doch zumindest diesen schönen Tag an den Anlegestellen des Sees verbringen. Nach der Menge der Leute, die am Bootshäuschen Schlange stehen, zu Urteilen ist Filch endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Er macht was alle anderen auch machen. Doch leider nimmt die Mitte ihn nicht Ernst – viele Leute finden seine Idee toll, doch niemand geht auf sein Angebot ein. Dennoch findet er, dass das Schild ein Erfolg ist. Denn so viele Menschen bleiben stehen um ihn ungläubig zu betrachten, dass er sich sicher ist, für noch so manchen Gesprächsstoff zu sorgen. Die offizielle Nummer 6 hat er heute mitgenommen. Er hofft, dass ihn das ein wenig seriöser erscheinen lässt.

Unverhofft nimmt der Tag doch noch eine Wendung. Er ist gerade dabei eine Ameise zu beobachten, die in seinen Geldbecher gefallen ist, als ihn plötzlich zwei kläffende Hunde aufschrecken lassen. In diesem Moment bleibt eine Dame stehen und erwägt ernsthaft, mit ihm Boot zu fahren. Doch kann sie sie sich nicht so recht entschließen. Sie kommen miteinander ins Gespräch und wie sich bald herausstellt ist sie Malerin und Schriftstellerin, außerdem Studierte Geografin, Medium und arbeitet als Persönlichkeits- und Unternehmensberaterin. Darüber hinaus hält sie sich den Sonntag zum Philosophieren frei und den Montag zum telefonieren. Filch ist begeistert und stützt sich in das Gespräch. Sie ergründen den Mechanismus von geben und nehmen im Geistesleben und in der Kunst. Sie reden davon wie und ob man geistige Energie in Geld Umtauschen könne und dass Einstein das ja gesagt habe. (Filch brummt schon ein wenig der Kopf, denn sie reden seit Stunden. Darüber hinaus ist er sich nicht sicher ob er alles richtig verstanden hat.) Schließlich fasst er sich ein Herz und fragt nach, ob sie Kassel kenne? Sie bejaht und sagt, es sei sehr trostlos (was Filch weiter entmutigt an seinem Ziel festzuhalten). Doch dann erfährt er, dass ein Künstler dort 1200 Chinesen direkt aus China hergebracht hat. Alle haben so arme Arbeiter erwartet und dann habe sich herausgestellt, dass es sich um 1200 reiche Geschäftsmänner handelt, die jetzt nach und nach ganz Kassel aufkaufen. Filch gerät in Erregung bei der Vorstellung, dass es dort so viele reiche Kunstwerke gibt. Dann stellt er sich vor, er würde von einem chinesischen Geschäftsmann gekauft werden. Wie sich das wohl auf seinen Wert auf dem Kunstmarkt auswirken würde. Jetzt ist er sich sicher, er muss nach Kassel.
Auf dem Heimweg ist die ganze Stadt voller fliegender Ameisen. Filch denkt an die Ameise in seinem Geldbecher und an Magnolia. An der Skulptur die aus Modellen von anderen Skulpturen besteht schießt er noch ein Foto von einem Mann neben dem Marx-Standbild und denkt, dass es ein guter Sonntag war.