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English synopsis, The Beggar's diary 14.07.2007.- It is now four weeks that Filch has been a citizen of Muenster, the city of the arts, the "public space sculpture" center of the world. Living in the middle of it for the last month has taught Filch a good deal about art. He used to be quite ignorant about the whole thing, and he thought, as most people do, that artists must be very special people: tortured, moody, with dirty and strong hands capable of molding marble and wood. He now knows that art is mainly a matter of decision, of taking decisions, and that artists are happy and uncomplicated people, no more complicated, at any rate, than electricians or bakers. And he has learnt this through countless encounters and conversations with artists and art historians, encounters just like the one he's had today with art historian Anja, who explained to him that—regrettably—she believes that handwork hardly plays a role in the arts.
But this is by no means the highlight of the day, which came instead shortly after his interesting conversation with Anja ended. A tall man with long blond hair appeared before him with a plastic cup hanging from his neck and a placard on which was written, in big, thick black letters: " 06 A". Filch is stunned, but he immediately lets the impostor know that identity and copyright are not matters that worry Filch, and that actually Filch is mostly interested in having a talk with the man. To Filch's delight, he learns that this kind impostor and his female companion have traveled all the way from Wupertal only to meet him! Filch is happier than ever: all the way from Wupertal!! Of course he'll have lunch with them!
To close the day, as he is walking back to the Landesmuseum he is stopped by a couple of youngsters who ask him what he means, which he understands as: what is your signification as an artwork?. He placidly replies that he is Sculpture No. 06, and he adopts immediately a contraposto position and leans against the wall of the museum.
Even he'll admit that his attitude was a little snooty.
"You are art??" "You are not art, there are 5.000 like you". "Maybe you are cool, but you are certainly not art". "You see that woman over there? Women are art, you are not". This is the only thing they say that Filch deigns to remark upon: "Well, that certainly is a piece of information".

Bettlertagebuch 14.07.2007
Filch ist jetzt auf den Tag genau vier Wochen in Münster. Als er herkam, hatte er - vorsichtig gesagt - eher romantische Vorstellungen vom Leben und Alltag eines "richtigen" Künstlers: Farbflecke an den Händen, die dem bürgerlichen Leben selbst bei offiziellen Anlässen eine unkonventionelle Alternative entgegen zu halten scheinen, sehnige Arme vom Aufstellen und Bearbeiten eines Marmorblocks, eine heisere, ungeübte Stimme, die von Atelierstunden voll selbstgewählter Einsamkeit und dem Ringen mit sich um die kaum jemals erreichbare Vergegenwärtigung der Wahrheit zeugt. Heute glaubt Filch zu wissen, dass Künstlersein vor allem eine Entscheidungsfrage ist. Er hat ausgeglichene Künstler kennen gelernt, größtenteils fröhliche, aufgeschlossene und unkomplizierte Menschen, die nicht schwerer an ihrem Schicksal zu tragen schienen als beispielsweise ein Elektriker oder ein Konditor.

Der Tag beginnt physisch mit einem Kampf zwischen zwei Hunden auf einem Bahnsteig des Hauptbahnhofs, bei dem prinzipiell jeder mitmachen könnte. Er dauert kaum mehr als zehn Sekunden, aber diese zehn Sekunden reichen völlig, um Filch vollends wach zu machen.

In der Bahnhofshalle entschließt sich Filch, einem plötzlichen Impuls folgend, in einen Tabakladen zu gehen. Er möchte eigentlich nichts kaufen. Er möchte so gut wie nie etwas KAUFEN. Kann auch den Stolz beispielsweise von Autobesitzern schwer verstehen, die sagen: diesen Wagen habe ich mir geKAUFT. Von Reiterinnen, die erzählen, dass sie sich bald ein Pferd KAUFEN werden. Wobei er es natürlich ganz selbstverständlich begrüßenswert findet, dass Menschen, die Geld haben, es auch ausgeben.
Er ist fasziniert vom Angebot an Tabakwaren und der Mannigfaltigkeit der unterschiedlichen Zigarettenpackungen. Aber er hat kaum Zeit zum Schauen, weil er sofort bedient wird.
"Haben Sie Nelkenzigaretten", fragte er, weil er sich sicher ist, dass das die richtige Frage ist, um sich elegant und ohne weitere Erklärungen wieder verabschieden zu können.
Die Bedienung denkt einen Augenblick nach, setzt bereits zu einem Kopfschütteln an, das jedoch im letzten Augenblick zu einem 6 Euro teuren Nicken wird. 6,10 Euro mit Streichhölzern, weil auch der Versuch scheitert, wenigstens die zu schnorren.

Am Spiekerhof, knappe zwei Meter von seinem Stammplatz entfernt, spielt jemand Gitarre. Und er spielt nur Hits. Spielt sie angenehm. Unterspielt sie leicht, aber mit Intensität. Spielt und singt "Father and Son", "Don´t know much about history", "Penny Lane", und Filch ist sich sicher, wenn es vielleicht doch ein Buch gibt, dass "Der Gitarrengott" heißt, kennt der Mann es besser als Filch Professor Kubricks Zauberwürfel. Was Filch nicht versteht: die Passanten sind mit Applaus noch weniger freigiebig als zunächst mit Kleingeld. Zunächst, denn der erfahrene Straßenmusiker lässt sich den finalen Rundgang mit Mütze durch die Tischreihen der Restaurants nicht nehmen. Filch weiß nicht, ob er ihn mehr für seine handwerklichen Fähigkeiten auf der Gitarre oder beim charmanten Einsammeln zumindest eines Bruchteils seiner verdienten Gage bewundern soll. Zuerst einmal ist es aber das Gitarrenspiel, und Filch denkt: ich würde meinen rechten Arm dafür geben, wenn ich so spielen könnte, bis ihm auffällt, wie unpassend dieser Gedanke gerade in diesem Zusammenhang ist.

Inzwischen hat Filch Besuch bekommen: die Kunstgeschichtlerin Anja, die auch Stadt- und Kunstführungen durch Münster macht und ihn schon einmal besucht hat, nimmt sich Zeit für ein gutes Gespräch. Ihr kann Filch auch eine Frage stellen, die ihn seit längerem beschäftigt: "Wie hoch schätzen Sie in der heutigen Zeit die Bedeutung des Handwerks in der Kunst ein?" Anja erklärt ihm, dass Handwerk - bedauerlicherweise, wie sie findet - eine zunehmend geringere Rolle spielt, und es stellt sich heraus, dass sie selbst vor dem Studium das Handwerk des Orgelbauens erlernt hat, sich aber selbst als Kunsttheoretikerin begreift. Lieblingskünstler: Hundertwasser.

Als sich Anja gerade verabschiedet hat, passiert etwas Unglaubliches. Ein Mann mit schulterlangen blonden Haaren und Sonnenbrille betritt die Szene. Er trägt einen Becher um den Hals und ein Schild, auf dem etwa zehnmal so groß wie auf Filchs Schild steht: "06 a"! Filch ist fassungslos. Der Mann selbst sieht aus, als wenn mit ihm nicht zu spaßen wäre: er hat ein sicheres Auftreten, das keinen Widerspruch zu dulden scheint und von einer subtilen, an Arroganz grenzenden Selbstverständlichkeit geprägt ist, die von seiner extrem lässigen weiblichen Begleitung (ebenfalls sonnenbebrillt) noch unterstrichen wird. Aber gerade auf verlorenem Posten fühlt sich Filch ja zu Hause, und er lässt den Auftritt nicht unkommentiert, was zu einem Gespräch führt, das einmal mehr zeigt, dass man nicht immer gut beraten ist, allzu viel auf den ersten Eindruck zu geben. Denn das Paar ist extra aus Wuppertal angereist, um ihn, um Filch zu besuchen!
Außerdem haben sie erlesene Tauschwaren mitgebracht. Und so tauscht Filch einen Band mit Kurzgeschichten von William Faulkner, eine einzelne Nelkenzigarette und ein Streichholz gegen drei Badekugeln, zwei Zeitschriften (eine über Wohnungseinrichtungen, eine über Ateliers), drei Raststätten-Gutscheine für jeweils 50 Cent, drei Gel-Pflaster, ein Erfrischungstuch, ein Erfrischungsgel für die Füße, einen kleinen Eimer voll Straßenkreide, eine Briefmarke mit Eichhörnchenmotiv, eine Familienschachtel Toffifee, zwei Anstecker von den "Kunstpunkten", einen Marienkäfer-Glücksbringer und eine kleine Schatulle aus Indien mit einer Muschel darin, die "das Auge Dalís" genannt wird. Aber fast am besten findet Filch die Tüte, die sie ihm ebenfalls überlassen. Eine Luxustüte mit Henkeln, die wirken als wären sie selbst aus Gel. Bei noch so schwerem Inhalt wird diese Tragetasche ihm nicht gleich in die Hand schneiden. Filch ist so dankbar, wenn mal jemand aus der Industrie mitdenkt.
In einem überschwänglichen Augenblick zeigt er "06 a" sogar das Buch, das er vor ein paar Wochen in einer großen Buchhandlung gekauft hat, und in dem eine der handelnden Personen heißt wie er, und erzählt sogar, wie er dachte, jeder würde ihn beim Kaufen anstarren (was natürlich nicht der Fall war). Aber die Szene, die gerade am Spiekerhof gegeben wird, hat eine ganze Menge Zuschauer.

Das Ehepaar aus Wuppertal möchte Filch sogar auf eine Erfrischung einladen und sie verabreden sich für kurz nach zwei, wenn seine offizielle Zeit am Spiekerhof für heute vorüber ist.
Filch verkauft noch eine Nelkenzigarette für zwei Euro. Dann hat er Besuch von einer Kunststudentin. Ein entspanntes, spannendes Gespräch.

Auch mit dem Ehepaar aus Wuppertal unterhält sich Filch über das Thema des Tages: Handwerk. Der Mann erklärt ihm, dass man unterscheiden müsse zwischen "Kunsthandwerk" (wovor sich zu hüten sei) und "Handwerk in der Kunst" (was nicht zu unterschätzen sei). Filch bestellt sich einen Bayrischen Wurstsalat und zwei große Apfelschorlen, was er sich finanziell nicht leisten kann. Aber man kann das ganze als beggarische Spekulation ansehen, die ausnahmsweise aufgeht: er wird eingeladen!
Zum Dank führt er seine neuen Freunde noch zum Ursprung des Fadens in der Nähe des Buddenturms, vor dem er sich im Überschwang noch fotografieren lässt, wozu er sich selbst eine der Nelkenzigaretten ansteckt, was wie er findet, seine launenhafte Bockigkeit ganz gut untermalt, aber im allgemeinen hält Filch nicht viel von Zigaretten. Er kann Rauchen generell einfach nicht nachvollziehen. selbst zum Unterdrücken des Hungergefühls zieht er Tee vor.
Als er sich von dem Paar verabschiedet, hat er seine Neuerwerbungen bereits sämtlich in der Luxustüte verstaut, die er zum Landesmuseum am Dom trägt.
Hier findet ihn eine lustige Gruppe mit Fahrrädern, und er verkauft noch eine Zigarette und zwei Stücke Straßenkreide (es fühlt sich für Filch besser an, Straßenkreide zu verkaufen) und bekommt zwei neue Stifte, ein Präservativ, eine halbvolle Dose Haarspray und etwas Kleingeld.

Ein sehr sonniger, warmer Tag geht zu Ende, und Filch ist fasziniert davon, wie die Sonne noch einmal die Straße vor dem Landemuseum mit Licht und Wärme durchflutet.
Zwei junge Männer kommen vorbei und fragen ihn, was er zu bedeuten hat. Er erklärt, dass er Skulptur Nr. 6 ist. (Ich spiele das so: Filch bleibt, einen Fuß angewinkelt, an die Wand des Landesmuseums gelehnt. Ich lasse ihn jünger wirken als er ist, aber leicht spöttisch. Er argumentiert nicht. Er verteidigt sich nicht. Er spricht nicht einmal lauter.)
"Du sollst Kunst sein?", sagte der eine. "Du bist keine Kunst. Es gibt 5.000 wie Dich." Filch sieht ihn an und sagt nichts, wartet viel mehr, was noch kommt. Dann fügt sein Gegenüber hinzu: "Du bist vielleicht cool, aber keine Kunst." Das Gegenüber dreht sich um und sieht eine junge Asiatin an ihnen vorbeigehen. "Hier", sagte er zu Filch: "Das ist Kunst. Frauen sind Kunst."
"Das ist doch mal eine Information", sagt Filch.